02/07/2024 0 Kommentare
Die Jugendpilgerfahrt nach Brüssel und Großbritannien
Die Jugendpilgerfahrt nach Brüssel und Großbritannien
# Reise/Fahrten

Die Jugendpilgerfahrt nach Brüssel und Großbritannien
Radikaler Verzicht – zumindest was das Gepäck angeht – bestimmte unsere Planung für die Jugendpilgerfahrt nach England. Statt in Pilgerherbergen wie in Frankreich oder auf Campingplätzen wie in den Alpen wollten wir dieses Mal in Gemeinden übernachten. Für die Gastfreundschaft, die wir dort erleben durften und das Vertrauen, das uns entgegengebracht wurde, können wir nicht genug danken. Zudem nutzten wir die Chance, mit Christinnen und Christen vor Ort ins Gespräch zu kommen.
Thematisch beschäftigten wir uns mit dem Thema „Versöhnung“ sowie der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Angesichts des schwierigen Verhältnis von EU und Großbritannien nach dem Brexit begannen wir in Brüssel, um den Versöhnungsgedanken frisch mit auf die Pilgerfahrt zu nehmen und zu bekunden: „Liebe Engländer, liebe Waliser, ihr gehört zu uns, zu Europa, wir lassen euch nicht los.“

In der Deutschen Gemeinde in Brüssel
In der Emmaus-Gemeinde in einem schönen Außenstadtteil wurden wir herzlich empfangen. Am Morgen gestalteten wir zusammen mit Vikarin Lilly Schaak den Gottesdienst. Schon eine Stunde davor und noch fast zwei Stunden nach dem Gottesdienst waren wir im Gespräch mit den verschiedensten Menschen aus Brüssel.
Eine Teilnehmerin hatte vor drei Jahren zum Konfi-Camp einen Austauschschüler aus Frankreich mitgenommen. Er wohnt seit zwei Jahren in Brüssel und veranstaltete eine Stadtführung für uns. Brüssel ist mehr als eine Reise wert oder mit den begeisterten Worten eines Teilnehmers: „Das waren die besten Pommes meines Lebens!“ Es war schön zu erleben, wie gut es tut, Menschen in anderen Ländern kennen zu lernen und den Kontakt zu halten.
London entdecken
Die Zugfahrt nach London war traumhaft. Für die knapp fünf Stunden Aufenthalt in der Stadt an der Themse hatte ich eine Stadtwanderung auf Komoot entworfen, die in Kleingruppen abgelaufen werden konnte: British Museum, China-Town, Trafalgar Square, Piccadilly Circus, Backingham Palace, Houses of Parliament, Big Ben, Themse mit Blick auf London Eye, Coven Garden – alles gesehen. Es war echt spaßig, dass sich die Kleingruppen unter all den Menschen, die sich durch das ferienhaft überfüllte London quetschten, immer wieder trafen.
Eine Messe in Northampton
Nach einer knapp einstündigen Wanderung mit unserem Gepäck quer durch Northampton erreichten wir die Katholische Gemeinde The Parish of St. Gregory the Great. Im Maria-Himmelfahrts-Gottesdienst am Abend sangen wir ein evangelisches Marienlied und stellten uns vor. Uns fiel vor allem die Weltoffenheit dieser Gemeinde auf, Katholiken von allen Kontinenten feierten zusammen die Messe. Zum Abendmahl wurden wir leider nicht eingeladen. Father Andrew entschuldige sich dafür mit den Worten: „Einst aber werden wir eins sein.“
Am nächsten Morgen kam er noch einmal zu uns und segnete uns mit warmen Worten und Gesten. Und weil wir nach Coventry aufbrachen, erzählte er uns, dass er als kleines Kind die Zerstörung durch die Deutschen Bomben miterlebt hatte. Wir hatten einen Zeitzeugen des deutschen Zerstörungskrieges getroffen, der mit uns als Nachfahren der Täter versöhnt war.

Die zwei Kathedralen von Coventry
Vom Bahnhof ging‘s als erstes zur Kathedrale oder besser zu den zwei Kathedralen, der zerstörten und der neuen. Mary Goodwin, eine Schottin, führte uns in perfektem Deutsch zu allen staunenswerten Besonderheiten. Später gestand sie, dass sie sich zwei Wochen lang auf die Führung in Deutsch vorbereitet habe. Ebenso groß wie ihre Vorbereitung, war ihre Begeisterung für das Versöhnungswerk, dass wir bestaunen konnten.
Am 14. November 1940 flog die deutsche Luftwaffe die Angriffe auf Coventry. Manche der beteiligten Piloten und Offiziere hatten übrigens ihre Ausbildung in Gatow abgeschlossen oder wohnten sogar dort, wie der Hauptmann Joachim-Friedrich Huth, der als Kommodore das Zerstörergeschwader „Horst Wessel“ befehligte. Bei dem Angriff wurde die mittelalterliche St. Michael‘s Cathedral zerstört. Beim Anblick der Zerstörung gebot der Propst der Kathedrale, Dick Howard, man solle sich das Gefühl von Zorn und Rache verbieten. Eine höchst erstaunliche Reaktion, die bis heute nachwirkt.

In der Ruine fielen Howard zwei verkohlte Dachbalken auf, die ein Kreuz bildeten. Dieses Kreuz und die aus mittelalterlichen Zimmermannsnägeln der Kathedrale zusammengefügten Nagelkreuze, wurden Zeichen der Mahnung, der Versöhnung und des Friedens.
Seit der Nachkriegszeit wird täglich das Friedengebet in Coventry gebetet. Zentrale Worte des Friedensgebetes sind die Worte: „Vater, vergib“. Er zitierte damit Lukas 23,34, wo Jesus Gott für diejenigen bittet, die ihn ans Kreuz schlagen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Horward nahm bewusst nur die ersten zwei Worte und lenkte den Blick von den deutschen Tätern weg zu allen hin. Wir alle sollen täglich – angesichts von Kriegen, Not, Hunger, Ungerechtigkeit in der Welt – beten, Vater vergib. Wir sind Teil der Schuldgeschichte der Menschheit und können nicht neutral beiseite stehen.

In der Llanbadarn Fawr Church in Aberystwyth
Nach einer vierstündigen Zugfahrt sahen wir die Irische See und erreichten die walisische Universitätsstadt Aberystwyth. Die Kirchengemeinde empfing uns mit einer traditionellen Walisischen Suppe: Dass Kohlrüben, Kartoffeln und Möhren so gut schmecken können! Am nächsten Tag erwanderten wir uns die geniale Küstenlandschaft. Einige gingen sogar im Meer baden. Am Sonntag ging‘s zum Gottesdienst, der Dank Father Jeffreys fantastischen Deutschkenntnissen zum Walisisch-Deutschen Gottesdienst wurde. Er fügte unserem Versöhnungsthema eine Erinnerung zu: Einer seiner besten Freunde, sei ein Deutscher gewesen, der als Kind dem Bombensturm auf Dresden gerade noch entkommen war. Sobald es ihm möglich gewesen war, wanderte er nach England aus. Ich fand es beeindruckend, wie das kurze Teilen dieser Erinnerung einen Perspektivwechsel markierte.

Port Talbot und die Arbeiterbewegung in Wales
Am Bahnhof erwartete uns schon Father Miles und geleitete uns zum Gemeindehaus, das sich neben dem Busbahnhof der Arbeiterstadt Port Talbot befand. Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Küste von Swansea bis Cardiff zum weltweit größten Standort für die Stahlindustrie.
Grund für die Entstehung der Arbeiterbewegung in Großbritannien war eine Wirtschaftskrise Ende der 1820er Jahre. Besonders in Merthyr Tydfil, der Eisen- und Stahlhauptstadt, kochten die Proteste hoch. Als die niedrigen Löhne nicht mehr für Lebensmittel reichten, besetzten Arbeiter die Stadtverwaltung und formulierten ihre Forderungen. Doch der König schickte Soldaten und 24 Arbeiter wurden erschossen. Der nur 21 Jahre alte Richard Lewis wurde als Rädelsführer zum Tode verurteilt. Kein Friedhof wollte seinen Leichnam aufnehmen, allein die St. Marry’s-Church in Port Talbot hatte den Mut, ihn würdevoll zu bestatten.
Die Geschichte hat ihre Spuren in der Stadt hinterlassen. Abends riecht es überall nach den Kohleöfen des Stahlwerks. Die Häuserzeilen sind ärmlich. Die wunderschöne Kirche mit dem romantischen Friedhof ist zur Hälfte eingefasst und abgedeckt durch eine schreckliche Hochstraße. Als Kontrast dazu erlebten wir unsere Wanderung auf der nahe gelegenen Halbinsel Gower am nächsten Tag.
Zum Abschied in Port Talbot waren wir beim Abendmahlgottesdienst. Bei den Anglikanern durften wir am Abendmahl teilnehmen, das tat gut. Father Miles äußerte seinen Wunsch, dass es eine Partnerschaft zwischen der anglikanischen Kirche von Wales und einer deutschen Landeskirche geben möge.
Kathedrale und Pilgergottesdienst in Cardiff
In der walisischen Hauptstadt Cardiff lauschten wir bei der Führung durch die St.-Davids-Kathedrale walisischen Gedichtzeilen, Gebeten und Bibeltexten und die Sprache klang herrlich – sehr kräftig W- und R-Laute. Auch diese Kirche wurde durch deutsche Luftangriffe stark zerstört und wiederaufgebaut.
Zu Gast waren wir in der Gemeinde St John’s Crescent, wo auf dem Herd schon die Suppen für uns bereitstanden: Gastfreundschaft wird in Wales großgeschrieben. Am nächsten Tage erwanderten wir uns Cardiff, besonders den riesigen Hafen und die felsige Küstenlandschaft. Abends lud die Gemeinde zu einem extra Gottesdienst, den wir Pilger gestalteten. Wir brachten unseren Gastgebern zwei deutsche Lieder bei und unsere Jugendlichen berichteten über eine ihrer Erfahrungen als Pilger in Großbritannien.
Zusammen mit zwei anglikanischen Geistlichen, einem orthodoxen Priester, der Kirchengemeinde, zwei Hunden und reichlich Essen verbrachten wir wunderbare Stunden. Da konnte man nach dem Brexit fragen, den die Anwesenden für die größte Katastrophe der letzten Jahrzehnte für ganz Großbritannien hielten. Versöhnung ist hier nicht. Ich greife vor auf den nächsten Tag in London, das zu einer Stadt mit zwei Klassen wird: Menschen mit großen Autos oder Kreditkarte auf der einen Seite und die anderen, die sich das Busticket nicht mehr leisten können und aus der Öffentlichkeit verschwinden.

Die Abreise zieht sich
Auf dem Weg zum Flughafen erfuhren wir, dass unser Flug annulliert worden sei. Vor Ort wurden wir trickreich auf den nächsten Tag umgebucht. Sorgenfreie 24 Stunden begannen: Wir reisten ins angebotene Hotel, genossen das Abendbuffet, duschten und genossen die breiten, weichen Betten und freuten uns aufs englische Frühstück. Wir hatten uns 12 Tage lang eingeschränkt und bekamen nun unverhofft ein großes Stück Überfluss geschenkt – wie es in der Bibel beschrieben wird (Lukas 6,38). In unsere Pilgerpässe wollten wir aber keinen Stempel vom Hotel. Was sollen denn künftige Gemeinden denken, wenn wir wieder auf Pilgerfahrt sind und sie einen Stempel des Hilton-Hotels in London-Gatwick sehen.

England geht in die Verlängerung
Abends saßen wir im Flugzeug, doch es rollte nicht an. Probleme führten zu Verzögerungen und schließlich zur Annullierung. Wie die Weltmeister tippten R. und J., um über das Umbuchungsportal einen annehmbaren Flug zu finden. Nach Rücksprache mit den Eltern buchten wir teure Sonntagsflüge. Die Hotels waren nun ausgebucht und kein Easyjet-Mitarbeiter konnte uns helfen. Vermittelt von Superintendenten Florian Kunz bot uns sein Freund Alastair ein Nachtquartier an. Kurz vor 1 Uhr nachts kamen wir in seinem Londoner Pfarrhaus an. In all dem Stress durften wir erleben, wie sich Nächstenliebe anfühlt. Danke an Alastair und seine Frau, dass wir – 13 Personen! – bei ihnen für zwei Nächte übernachten konnten.
Ein Fazit zur Jugendpilgerfahrt
Die stressigen Tage zum Schluss überdecken teilweise die vielen großartigen Erfahrungen, aber wenn wir die Fotos anschauen, denken wir an die großartigen Landschaften, Kirchen und Gemeindehäuser, hören die Stimmen unserer Gastgeber:innen, erinnern uns an alles, was wir erlebt haben, spüren das geschenkte Vertrauen und fühlen Dankbarkeit und Einheit: Wir sind eins in Christus. Das haben wir täglich erlebt auf unserer Jugendpilgerfahrt zum Thema Versöhnung.
Mathias Kaiser, Pfarrer Berlin-Gatow und Kreisjugendpfarrer von Spandau
Gekürzte und redigierte Fassung. Der originale Text sowie weitere Fotos finden Sie unter: mathiaskaiser.wordpress.com
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