Das allerliebste Wort

Das allerliebste Wort

Das allerliebste Wort

# Predigt des Superintendenten

Das allerliebste Wort
Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

Standbilder gibt es von ihm viele. Statuen aus grauem Stein, auf hohen Sockeln und mit ernster Miene. Diese typische und etwas pathetische „Ich stehe hier und kann nicht anders“ – Pose. Und was bei keinem der Standbilder fehlen darf ist die Bibel. Mal ist sie verschlossen und der Reformator hat eine geballte Faust draufgelegt, so als würde auf den Wortlaut der Bibel pochen. Oder klopft er die Schrift auf ihren Wahrheitsgehalt ab? Der Doktor der Theologie hat das ja oft getan. Aber mit geschlossenen Buchdeckeln ist das ein wenig schwierig. Viel öfter halten die steinernen Luther deshalb auch eine geöffnete Bibel in den Händen. Einige halten sie sich stolz vor die Brust, als wollten sie sagen: „Hab ich ganz allein ins Deutsche übersetzt, kannste mal sehen!“ Doch meist weist der Reformator mit dem Zeigefinger auf den Text, als solle dem Betrachter vermittelt werden: „Hier, das ist wichtig! Um mich geht es gar nicht, sondern um Gottes Wort. Ich bin nur der Hinweisgeber.“ Und vielleicht heißt diese Geste auch: „Guck mal, was ich in diesem Buch gefunden habe.“

Den erlösenden Satz – hat Luther gefunden. Doch „Finden“ klingt fast zu einfach. Ein zähes Ringen mit dem Bibeltext ist es gewesen. An dem Wort „Gerechtigkeit Gottes“ im Römerbrief hatte er sich die Zähne ausgebissen. Lange hatte er darunter verstanden, dass Gott vom Menschen Gerechtigkeit fordere, vorbildliche Taten, Perfektion. Da kann man ja nur scheitern. „Gerechtigkeit Gottes“ - kalt und hart war ihm dieses Wort gewesen, kalt und hart war ihm Gott vorgekommen, ein unbarmherziger Richter, nur darauf aus, zu strafen und den Menschen klein zu machen. Bis er versteht: „Gottes Gerechtigkeit“ ist nicht der Maßstab, der dem Menschen angelegt wird, diese Gerechtigkeit wird ihm in Jesus Christus geschenkt. Wir müssen Gott nichts recht machen, wir sind ihm schon recht, ja mehr noch: geliebt. Bei ihm können wir uns kein Ansehen erwerben, wir sind bereits angesehen, angenommen und verstanden, können uns ihm vertrauensvoll überlassen – das ist seine Gerechtigkeit, das ist Glauben. Und als Luther das versteht, da ist es, als würden die Pergamentseiten warm und lebendig, als wäre da ein Herzschlag im Buch, als spüre er die Anwesenheit eines anderen. Später hat er geschrieben:

„Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Und mit welchem Hass ich vorher das Wort 'Gerechtigkeit Gottes' hasste, mit solcher Liebe schätzte ich es nun als allerliebstes Wort.“

Der erlösende Satz, das allerliebste Wort – für Luther ändert sich damit alles. Dieses Wort macht ihn frei und es lässt ihn mutig aufbegehren gegen seine damalige Kirche, die den Zugang zum liebenden Gott verdunkelt hat und mit der Angst der Menschen ein lukratives Geschäft betreibt. Da hält Luther sein allerliebstes Wort dagegen, die Botschaft von der Güte Gottes. Mit den Hammerschlägen an der Tür der Wittenberger Schloßkirche geht es los und dann bekommt das Wort Beine, bewegliche Lettern im Buchdruck – gerade erst erfunden, Flugschriften verbreiten sich, Predigten und Traktate und schließlich die Bibel auf Deutsch, Gottes Wort für jeden zum Lesen. Eine Medienrevolution, eine Medienreformation!

Den erlösenden Satz, das allerliebste Wort – darauf warten die 3500 Menschen im Garten der Deutschen Botschaft in Prag am Abend des 30. September vor 35 Jahren. Die Lage hatte sich zugespitzt, immer mehr Menschen waren in den vergangenen Wochen aus der DDR in die Botschaft geflüchtet – durch das Tor, über die Außenmauer oder den Zaun. Das Wetter wird kälter, es regnet immer wieder in Strömen. Die Gesundheitslage ist kritisch, die Kanalisation überlastet. Weitere Toiletten können nicht angeschlossen werden. Auch das Wasser wird knapp. Die Menschen schlafen in Zelten und auf den Stufen im Treppenhaus.

Die Verantwortlichen haben Sorge, die Lage könnte eskalieren: durch eine Epidemie, ein Feuer oder eine Massenpanik. Und für die Geflüchteten ist die Situation eine nervliche Zerreißprobe. Die ungewisse Zukunft macht ihnen Angst. Dann geht das Gerücht um, dass Genscher kommt. Wenn der Außenminister der Bundesrepublik persönlich anreist, muss etwas Entscheidendes anstehen. Und tatsächlich – an diesem Abend betritt er den grell erleuchteten Balkon, nimmt ein Megafon zur Hand. Unruhe, Zwischenrufe, bis Hans-Dietrich Genscher diese Worte spricht: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“

Lauter Jubel bricht aus. Die zweite Hälfte von Genschers Satz geht unter. Alle Anspannung löst sich in Freude auf. Der Traum von der Freiheit – nun ist er wahr geworden.  

Den erlösenden Satz, das allerliebste Wort – das gibt es in der großen Geschichte und in den kleinen Geschichten, die das Leben schreibt. Der alte KFZ-Meister ist gestorben. Bis ins hohe Alter war er noch als Senior-Chef in seinem Betrieb präsent. Morgens kam der Frühaufsteher pfeifend in die Werkstatt, und zur Begrüßung immer der Spruch: „Froh beginnt der Tag!“ Die Verantwortung abzugeben, seinen Sohn machen zulassen, ist ihm nicht immer leichtgefallen, erzählt die Witwe beim Beerdigungsgespräch. „Aber wissen Sie Herr Pfarrer … er war so stolz auf seinen Sohn. Nur sagen konnte er ihm das nicht. Sie wissen ja, Männer und Gefühle. Aber könnten Sie das sagen in Ihrer Ansprache?“ Der Pfarrer tut wie ihm geheißen und beim Sohn fließen die Tränen, als er ihn hört – den erlösenden Satz, das allerliebste Wort. 

Vielleicht heißt das, Reformation zu feiern: Nicht einen Glaubenshelden auf den Sockel zu heben, sondern zu erzählen, was das Wort bewirken kann. Das Wort, das in die Freiheit führt und von der Liebe spricht. Das Wort aus Gottes Herz und aus Menschenmündern. Einige sagen ja, dass Luthers reformatorische Entdeckung mit uns heute nicht mehr viel zu tun hat, sich nur schwer vermitteln lässt. Zugegeben: Die Frage Luthers: „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“ ist vielleicht wirklich nicht das zentrale Thema heutiger Zeitgenossen. Aber die Angst, nicht gut genug zu sein, die kennen wir. Auch die Versuche, etwas dafür zu tun, geliebt zu werden und angesehen zu sein. Es gibt diese Sorge, nicht gesehen zu werden. Bei den meisten Menschen ist das eine leise Angst, wie eine kleine graue Ecke im Herzen. Doch wenn sie zu groß wird, kann es sein, dass sie herausgeschrien wird auf Demos und in Internetforen - gegen die Politiker, die angeblich alle nichts tun und sich um niemanden kümmern. Gegen die Flüchtlinge, die angeblich alles bekommen und einem alles, was man überhaupt noch hat, wegnehmen werden.

Luther kannte solche Dunkelheiten im eigenen Herzen, wusste wie sich das Böse in Gedanken und Gefühle schleichen kann. Aber wie es wieder hell wird durch einen erlösenden Satz, das wusste er auch - wie Gottes Wort uns Menschen verwandeln kann. „Glaube“ hat Luther das genannt. In seiner Vorrede für den Römerbrief hat er formuliert: „Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal drüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und voller Lust gegen Gott und alle Kreaturen. Daher wird der Mensch ohne Zwang willig und voller Lust, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Liebe und zu Lob, der einem solche Gnade erzeigt hat.“

Standbilder gibt es von ihm viele. Statuen aus grauem Stein, auf hohen Sockeln, mit ernster Miene und in der Hand die Bibel. Luther als Säulenheiliger der Reformation. „Mach dich doch mal locker!“ würde ich am liebsten so einem Standbild zurufen. Müsste einer, der die befreiende Kraft des Evangeliums gekostet hat, nicht ein wenig erlöster, fröhlicher aussehen? Doch Gott sei Dank, es gibt auch ein anderes Luther-Standbild – 2015 wurde es entworfen und seitdem sind mehr als eine Million Kopien gegossen worden. Nur 7,5 cm misst die Statue, kein grauer Stein, sondern buntes Plastik, meistverkaufte Playmobil-Figur aller Zeiten. Eine davon steht auf meinem Schreibtisch. Das historische Gewand detailgetreu nachgebildet, zwei Punkte als Augen und ein keckes Lächeln. Ein fröhlicher, fast kindlicher Reformator. In der einen Hand eine Feder, in der anderen die Bibel. Und wenn ich mal verzagt bin und nicht weiterweiß, dann streckt er mir das aufgeschlagene Buch entgegen, flüstert: Lies! Du bist geliebt, erlöst, befreit. Da steht es, schwarz auf weiß: Das allerliebste Wort.

Florian Kunz

Predigt gehalten am Reformationstag, 31. Oktober 2024, im Gottesdienst in der St.-Nikolai-Kirche. Predigt zu Römer 3,21f + 28: Das allerliebste Wort

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