Die Spur der Bluthostien – kein Krimi

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Die Spur der Bluthostien – kein Krimi

Ein Pilgerbericht vom Weg von Linum nach Bad Wilsnack zur Wunderblutkirche

Als vor einem Jahr feststand, dass unsere Tochter in diesem September auf Klassenfahrt wäre, entstand bei uns die Idee, mal wieder ein paar Tage wandern zu gehen – denn damit können wir unsere Tochter nicht wirklich begeistern. Und recht schnell waren wir dann beim Pilgerweg nach Bad Wilsnack.

Pilgern? Na klar habe ich damals Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ gelesen und bewundert. Und ja, ich bin durchaus „kirchen-affin“ und in unserer Gemeinde aktiv. Aber Pilgern? Hat das nicht was mit Buße zu tun, ist das nicht eher etwas sehr Katholisches?

Aber auf der einen Seite ging es uns hauptsächlich ums Wandern, um Natur und Landschaft, um das Erlebnis, mit den eigenen Füßen Distanzen zu überwinden. Und auf der anderen wusste ich aus eigener Erfahrung, dass man sowohl bei Radreisen als auch bei Wanderungen sehr schnell einen eigenen Rhythmus findet, sich ganz im Hier und Jetzt bewegt, und man mit den Gedanken auch mal bei sich selbst sein kann.

Und so planten wir also unsere Wanderwoche. Die Rahmenbedingungen waren, dass wir unsere Tochter Montag zur Klassenfahrt bringen müssten und am Freitag wieder abholen. Und damit galt es Etappen abzustecken. Aus unserer Erfahrung erschienen uns 20 Kilometer mit Gepäck eine gute Tagesdistanz. Jedoch war es über weite Strecken gar nicht so leicht, an den passenden Stellen Quartiere zu finden. Aber am Ende hatten wir einen Plan und gebuchte Quartiere.

1. Tag: Im Sauseschritt voran

Ein bisschen aufgeregt waren wir schon, als wir in Linum aus dem Auto stiegen. Mein Vater hatte uns netterweise hierhergefahren, das ersparte uns doch ein bisschen Zeit der Anreise mit Bahn und Bus. Hatten wir auch nichts Wichtiges vergessen? Würde es mit allen Quartieren klappen? Würden unsere Füße mitmachen?

Wir hatten nur leichtes Gepäck. Eigentlich braucht man unterwegs kaum etwas. Die funktionalen Wanderklamotten hatten wir an, ein Satz etwas ordentlicherer „Ausgehsachen“ für abendliches Essen gehen war im Rucksack. Duschzeug, Zahnbürste, eine Trinkflasche und die heute wohl unausweichliche Kollektion an Ladegeräten für die mitgeschleppte Elektronik. Mehr brauchte es nicht. Das wichtigste Utensil schien gerade noch die Regenjacke, denn der Wetterbericht verkündete energischen Regen bis zum Mittag, bevor der Rest der Woche sehr angenehm spätsommerlich werden sollte.

Ein herzlicher Abschied und dann standen wir an der Kirche in Linum – und zwar vor verschlossenen Türen. Leider. Irgendwie hatte ich mir doch immer vorgestellt, hier noch mal kurz innezuhalten und mich auf die kommende Strecke einzustimmen. So machten wir uns dann nach ein paar Fotos direkt auf den Weg. Es würde eine lange Etappe werden, denn wir hatten erst in Rohrlack nach 27 Kilometern eine Unterkunft gefunden. Flotten Schrittes ging es los. Der leichte Nieselregen, der uns bis Linum noch begleitet hatte, hörte auf, und schon nach einer halben Stunde zogen wir unsere Regenjacken schwitzend aus und verstauten sie tief im Rucksack. Wir sollten sie nicht mehr brauchen.

Unser erstes (und einziges) Zwischenziel heute war Fehrbellin. Da wir in Rohrlack kein Abendessen bekommen würden, deckten wir uns hier mittags im Supermarkt ein und stärkten uns beim Bäcker. Da wir aber noch eine weite Strecke vor uns hatten, hielt es uns gar nicht lange im Ort, ehe wir ganz idyllisch entlang des Rhinkanals weiter wanderten. Doch sehr schnell waren wir wieder in der Rhin- und Luchlandschaft. Platt bis zum Horizont, unendlich weites, struppiges Wiesenland, hin und wieder eine einsame Baumreihe. Einmal stieß ein Raubvogel nur wenige Meter vor uns herab und entschwand mit seiner Beute. Ein bisschen zerrte es schon an der Motivation, wenn man die ganze Zeit vor Augen hat, wo man in einer Stunde sein wird.

Aber sehr schnell war er dann auch da: der eigene Rhythmus. Und die Gedanken begannen frei zu wandern. Da wir gerade einen Trauerfall in der Familie hatten, war ich schnell bei der Frage „Was ist wirklich wichtig im Leben?“ Sicher nicht das Smartphone, das trotzdem regelmäßig aus der Tasche gezogen wurde, um mal auf der vorbereiteten elektronischen Karte zu schauen, wo der nächste Abzweig käme und wie viel Strecke noch vor uns läge. Ich muss es zugeben, die flache, etwas trostlose Landschaft auf der ersten Etappe hatte mich etwas zermürbt. Und wahrscheinlich dafür gesorgt, dass wir an diesem Tag ganz schön vorwärts gehetzt sind.

Pilgerzeichen in Rohrlack

Kurz vor Garz änderte sich die Landschaft. Es begann welliger zu werden und das Herz jubelte über dieses weniger eintönige Panorama. Dann stutzten wir: Nachdem wir stundenlang zwischen tristem Wiesen- und Ackerland hindurchgetrottet waren, standen wir plötzlich am Feldrand vor Buchsbaumhecken, einer Sitzgruppe, steinernen Amphoren. Wie aus dem Nichts war der Schlosspark des Gutshauses Garz vor uns aufgetaucht. Die Kirche von Garz blieb für uns natürlich auch wieder verschlossen, aber nun steigerten wir wirklich noch mal unser Tempo, weil wir wussten, dass in Rohrlack der Bäcker bis 17 Uhr geöffnet hätte. Fünf Minuten vorher waren wir da. Und hätten wir geahnt, dass „Vollkern“ nicht nur eine weithin bekannte Bio-Bäckerei ist, sondern auch noch ein gut ausgestatteter Bio-Laden, dann hätten wir nicht über 20 Kilometer unser Abendessen durch die Gegend geschleppt.

Bis ins Quartier waren es nun nur noch ein paar Schritte, wo wir erst mal die schweren Beine hochlegen mussten. Und nach einem üppigen Mahl ließen wir noch eine alte Tradition aufleben: Wir hatten uns für die Wanderung das Buch „Simonhof“ von Stefan Soder mitgenommen, eine fiktive Geschichte über vier Generationen eines österreichischen Almbauernhofes, aus dem wir uns nun gegenseitig vorlasen.

2. Tag: Genusswandern

Beim Aufstehen erst mal ein vorsichtiger Versuch: Nein, die gestern Abend schmerzenden Beine fühlen sich wieder ganz normal an. Prima. So starteten wir den Tag mit einem grandiosen Frühstück bei „Vollkern“. Heute würden wir es ruhiger angehen, schließlich hatte die heutige Etappe bis kurz vor Kyritz die perfekte Länge von 20 Kilometern.

Und die Landschaft gestaltete sich abwechslungsreich. Eine baumbestandene Allee führte uns nach Barsikow, wo wir auf der Dorfstraße mit einem „Guten Pilgerweg!“ gegrüßt wurden. Dann ging es abwechselnd durch recht wilde Natur und idyllisch gewellte Felder. Als wir schon Blick auf den Kirchturm Wusterhausen hatten, passierten wir ein merkwürdigerweise noch blühendes Sonnenblumenfeld. Unter einer schattigen Baumgruppe breiteten wir eine kleine Decke aus und machten Pause. Unterwegs hatten wir an einer Allee jeder einen Apfel gepflückt, dazu gab es ein paar Nüsse. Auch unsere Lektüre wurde wieder hervorgeholt. Wie sollte es uns bessergehen können?

Natürlich war etwas später dann die Kirche in Wusterhausen wieder verschlossen, aber wir trösteten uns mit einem Eisbecher am Marktplatz. Und dann kam ein traumhafter Abschnitt durch den Wald entlang des idyllischen Untersees.

Wir hatten gebummelt an diesem Tag, haben viele Pausen gemacht, die Landschaft genossen und standen mit den Füßen im See, so dass wir auch erst wieder am späten Nachmittag unser Hotel kurz vor Kyritz erreichten.

3. Tag: Die Tore öffnen sich

Vor diesem Tag hatte ich Respekt: Denn wieder erwartete uns mit 28 Kilometern eine lange Etappe. Die etwa 50 Kilometer der vergangenen zwei Tage spürten wir schon. Also ging es früh los, um nicht am Nachmittag in Hektik zu geraten. So standen wir bereits um halb zehn in Kyritz vor der imposanten Marienkirche – und wie gewohnt vor verschlossenen Türen. Doch just als wir noch ein paar Fotos machten, kam die Küsterin der Gemeinde an uns vorbei und fragte, ob wir in die Kirche wollten. Und so bekamen wir hier eine kleine Privatführung und konnten auch erstmals in einer der Kirchen kurz innehalten. Dies war erst der Auftakt eines Tages, der zu einem echten Pilgertag wurde.

Ein Korb mit Wasserflaschen und eine handschriftliche Notiz

Schon im nächsten Ort, Rehfeld, wurden wir überrascht durch ein professionelles Straßenschild, das uns kundtat, dass wir auf dem „Pilgerweg“ seien. Ein weiteres Schild lud uns ein, doch mal in die Kirche einzutreten. Und das kleine Kirchlein war tatsächlich offen. Mit Zetteln wurden wir als Pilger begrüßt, Getränke standen gegen eine Spende bereit, auf einem großen Gruppenfoto präsentierte sich die gesamte Gemeinde. Wir fühlten uns sofort willkommen!

Auch in den weiteren Orten dieser Gesamtkirchengemeinde „Neun Kirchen Breddin und Umland“ durch die wir in Berlitt und Barenthin kamen, fanden wir große Hinweistafeln, offene Kirchen und wurden auch immer wieder als Pilger auf der Straße angesprochen und erhielten gute Wünsche mit auf den Weg.

So schlich sich tatsächlich eine Mischung aus Rührung und Stolz in die eigenen Gefühle und Gedanken. Die nun regelmäßigen Kirchenbesuche strukturierten diese lange und zugegebenermaßen auch anstrengende Etappe. Denn anders als auf den anderen Teilstücken, galt es heute über große Strecken auf Straßen voranzukommen. Zugegeben: Es waren kaum befahrene Straßen. Trotzdem war das Laufen auf Asphalt anstrengend und das Achten auf mögliche Fahrzeuge nahm einen Gutteil des Bewusstseins in Anspruch (auch wenn uns mehrfach von entgegenkommenden Treckern aus freundlich gewinkt wurde).

Nach einem dieser Straßenabschnitte legten wir uns einmal einfach für eine halbe Stunde in einen Kiefernwald, lauschten auf das Rauschen der Bäume und beobachteten die Sonnenstrahlen zwischen den Zweigen.

Dann kamen wir in Görike in den Pfarrsprengel „Glöwen-Schönhagen“ – und standen wieder vor verschlossenen Kirchentüren. Dafür aber begleitete uns nun eine andere wundervolle Idee des Pfarrsprengels: An den Kirchen und einigen weiteren prägnanten Orten des Weges fanden wir Audiopunkte – kleine Tafeln mit QR-Codes, hinter denen sich dann Links auf kurze Aufzeichnungen mit Erklärungen, Musik und Denkimpulsen für den folgenden Weg fanden. Eine wirklich tolle Idee, die uns die letzten (Straßen-) Kilometer bis zu unserem Ziel in Klein Leppin verkürzte und tatsächlich für viel Stoff zum Nachdenken sorgte.

In der ehemaligen Wassermühle in Klein Leppin durften wir dann noch bewundernd darüber staunen, wie hier Catrina und Bernd in Eigeninitiative einen „Lost Place“ in ein absolutes Paradies verwandeln. Wir haben im Gästeappartement im Herrenhaus der Mühle übernachtet und trafen auf unglaublich liebenswerte Gastgeber, eine wunderschöne, liebevoll gestaltete Unterkunft, einen verzauberten Garten. Sogar ein großartiges Abendessen bekamen wir. Wir waren völlig hin und weg, was die beiden hier bereits geschaffen haben – und wie viele Ideen und Projekte sie noch haben.

4. Tag: Das Wunder

Schweren Herzens verabschiedeten wir uns nach einem traumhaften Frühstück von unseren Gastgebern und schulterten zum letzten Mal die Rucksäcke. Nur noch 13 Kilometer bis Bad Wilsnack zur „Wunderblutkirche“.

Was hat es nun eigentlich mit der Pilgerei in diese Kirche auf sich? Die drei Bluthostien (deren Bezeichnung mich als Running Gag schon regelmäßig zu leicht blasphemischen Späßen animiert hatte) waren uns seit dem ersten Tag als Wegmarkierung allgegenwärtig. Im Jahr 1383 wurde das unscheinbare Dörfchen Wilsnack inklusive seines Kirchleins von einem Raubritter niedergebrannt. War es nun eine göttliche Eingebung oder schlicht eine schlaue „Marketing-Idee“, jedenfalls entdeckte drei Tage nach der Zerstörung der damalige Priester in den Ruinen der Kirche drei „blutbefleckte“ Hostien. Das Wunder wurde publik gemacht, Menschen von nah und fern wollten die Hostien sehen, immer größere Kirchen wurden errichtet, aus dem kleinen Dörfchen wurde eine respektable Stadt und einer der wichtigsten Wallfahrtsorte Nordeuropas. Größte Einnahmequelle der Stadt: Andenken für Pilger. 200 Jahre später machte die Reformation Schluss mit der Reliquienverehrung, die Hostien wurden endgültig verbrannt und der Pilgerstrom versiegte.

Wunderblutkapelle in Bad Wilsnack

Heute wanderten nun wir auf den letzten Metern zur Wunderblutkirche St. Nikolai. Wissend aber, dass der Weg das Ziel ist. Und trotzdem war es schön, als wir dann mittags nach einem abwechslungsreichen Weg durch Wälder und vorbei an der Plattenburg durch das Portal der Kirche schritten und unsere Rucksäcke absetzten. Es ist natürlich trotz allem ein gutes Gefühl anzukommen. Die Kirche brachte uns dann einen kleinen Moment der Stille, um den Weg der vergangenen Tage Revue passieren zu lassen. Die Glasfenster der japanischen Künstlerin Leiko Ikemura in  der kleinen „Wunderblutkapelle“ schafften noch mal eine ganz eigene Stimmung.

Uns zog es dann noch in das Pilgercafé, schließlich musste das Erreichte „gefeiert“ werden. Dann ging es zur Entspannung der durchaus müden Knochen in die Therme. Wir hatten noch eine Nacht im Bahnhofsquartier in Bad Wilsnack gebucht, so dass wir ganz entspannt am nächsten Tag mit dem Zug zurück nach Berlin fahren konnten.

Der Blick zurück

Was bleibt zu sagen? Wir hatten ein paar großartige Tage und eine sehr schöne Tour. Ich finde es nach wie vor schade, dass wir es zeitlich nicht schafften, den Abschnitt von Bötzow bis Linum zu gehen, weil ich mir den langen Weg durch den Krämer Wald sehr reizvoll vorstelle.

Die Beschilderung der Strecke ist weitestgehend sehr gut. Trotzdem war ich ganz froh, den Wegverlauf auf einer elektronischen Karte dabei zu haben, um nicht auf das Finden der nächsten Markierung angewiesen zu sein.

Eine gute Vorbereitung, insbesondere das Buchen von Quartieren und den passenden Zuschnitt der Etappen, halte ich für recht wichtig, denn man kann entlang des Weges nicht davon ausgehen, ad hoc und überall eine Unterkunft zu finden. Wenn man Wert darauflegt, alle Kirchen zu sehen und die Pilgerstempel zu sammeln, sollte man deutlich mehr Zeit einplanen, weil das in der Regel bedeutet, Leute aus der Nachbarschaft herbei klingeln zu müssen.

Ja, es war für uns vorrangig eine Wanderung, aber dabei hat man natürlich viel Zeit, den eigenen Gedanken nachzuhängen, sie treiben zu lassen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Das wird natürlich nur möglich, wenn man so wie ich mit einer Wanderpartnerin unterwegs ist, mit der man das gleich Tempo hat – und mit der man auch mal zwei Stunden schweigend gehen kann. Dafür bin ich dankbar. Natürlich ist es so, dass jeder Schritt den wir gegangen sind, jeder Eindruck, jeder weite Horizont, jeder nette Gruß am Straßenrand uns ein kleines Stück verändert. Dafür wandern – oder pilgern – wir ja.

Andy Ball

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