Ein Lied kann eine Brücke sein

Ein Lied kann eine Brücke sein

Ein Lied kann eine Brücke sein

# Predigt des Superintendenten

Ein Lied kann eine Brücke sein
Nachdem man Paulus und Silas viele Schläge gegeben hatte, warf man sie ins Gefängnis und trug dem Kerkermeister auf, sie in sicherem Gewahrsam zu halten. Auf diesen Befehl hin führte der sie in den innersten Teil des Gefängnisses und legte ihnen die Füsse in den Block.
Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas zu Gott und stimmten Lobgesänge an, und die anderen Gefangenen hörten zu. Da gab es auf einmal ein starkes Erdbeben, und die Grundmauern des Gefängnisses wankten; unversehens öffneten sich alle Türen, und allen Gefangenen fielen die Fesseln ab. Der Kerkermeister fuhr aus dem Schlaf auf, und als er sah, dass die Türen des Gefängnisses offen standen, zog er sein Schwert und wollte sich das Leben nehmen, da er meinte, die Gefangenen seien geflohen. Paulus aber rief mit lauter Stimme: Tu dir nichts an, wir sind alle da! Jener verlangte nach Licht, stürzte sich ins Innere und warf sich, am ganzen Leib zitternd, Paulus und Silas zu Füssen. Er führte sie ins Freie und sagte: Große Herren, was muss ich tun, um frei zu werden? Sie sprachen: Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und dein Haus. Und sie verkündigten ihm und allen, die zu seiner Familie gehörten, das Wort des Herrn. Und er nahm sie noch zur gleichen Nachtstunde bei sich auf und wusch ihre Wunden und liess sich und alle seine Angehörigen unverzüglich taufen. Dann führte er sie in seine Wohnung, liess den Tisch bereiten und freute sich mit seinem ganzen Haus, weil er zum Glauben an Gott gekommen war. 

„Da kann ich ein Lied von singen …“ 

sagen wir, wenn uns jemand etwas erzählt, was wir auch schon mal erlebt haben. Wenn wir unser Mitgefühl ausdrücken wollen, weil einer etwas durchmachen muss, was wir nur zu gut kennen. „Mit Mitte fünfzig nochmal auf Jobsuche gehen zu müssen … da kann ich ein Lied von singen.“ „An dieser Straße gibt es viele Radarkontrollen. Mein Bruder kann ein Lied davon singen, der ist da schon zigmal geblitzt worden!“ „Ich muss dir von Niederlagen ja nichts erzählen, als Hertha-Fan kannst du ja ein Lied davon singen …“  

„Da kann ich ein Lied von singen …“ 

haben sich auch die Teilnehmer des Eurovision-Songcontest gedacht. Lieder vom Leben und der Leidenschaft, von Licht, Mutterliebe und Espresso Macchiato. Vielleicht haben Sie das Finale ja gestern live gesehen? Dann können Sie ja ein Lied davon singen. Der deutsche Beitrag – naja! War ziemlich „baller baller“. Ja, denn genauso hieß der Song von Abor und Tynna. Für den Sieg hat’s dann auch nicht gereicht. Ein anderes Lied hat das Rennen gemacht. Aber das am Sonnabend „Kantate“ ein Gesangswettbewerb die Völker verbindet – das wird ja wohl kein Zufall sein. „Ein Lied kann eine Brücke sein“ - das hat Joy Flemming 1975 beim ESC gesungen und immerhin den 5. Platz belegt.

Ein Lied kann eine Brücke sein

Das erleben auch Paulus und Silas. Doch zunächst pfeiffen die zwei auf dem letzten Loch – und das im doppelten Wortsinne. Man hat sie ins letzte Loch geworfen, den tiefsten Kerker, Hochsicherheitstrakt. Mit ihnen wurde kurzer Prozess gemacht, das heißt: eigentlich gar kein Prozess, kein ordentliches Gerichtsverfahren. Lynchjustiz vielmehr. Ein wütender Mob hat ihnen die Kleider vom Leib gerissen, ihnen mit Ruten blutige Striemen versetzt und die Stadtrichter haben den Kerkermeister angewiesen, sie einzubuchten. Ihr Vergehen? Geschäftsschädigendes Verhalten. Paulus hatte einer Sklavin ihren Wahrsagegeist ausgetrieben und sie damit einer Fähigkeit beraubt, die für ihre Herren ein lukratives Geschäft bedeute. Dafür sitzt er nun im dunklen Verlies und sein Begleiter Silas mit ihm. Die Füße hat man ihnen in Holzblöcke gesteckt, was an Folter grenzt, denn so können sie weder sitzen noch liegen, auch Krämpfen sind sie bewegungsunfähig ausgesetzt. Sie können nichts tun, außer eines …

Sie pfeifen auf dem letzten Loch 

Ja, die Anderen in den Zellen hören es ganz deutlich. Da finden zwei ihre Stimme wieder, dabei sollten sie doch mundtot gemacht werden. Sie stimmen sich ein, finden einen gemeinsamen Ton und dann singen sie. Die anderen Häftlinge können nicht verstehen was sie singen – es ist Hebräisch, die Sprache der Juden. Sind es Psalmen? Auf jeden Fall ist da nichts Verzagtes in ihrem Gesang, keine Klage, es hört es sich eher wie ein Loblied an: „Halleluja“ hallt durch die dunklen Gänge und viele Ohren hören es. Ein Lied kann eine Brücke sein …  

Auch Dietrich Bonhoeffer hat so ein Lied geschrieben, ein Gedicht aus dem Kellergefängnis im Reichssicherheitshauptamt. Es ist sein letzter theologischer Text, wenige Monate vor seiner Hinrichtung: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Angesichts seines unausweichlichen Todes schreibt Bonhoeffer einen Text voll Wärme und Vertrauen, der bis heute so viele Menschen in schweren Momenten getröstet und ihnen Geborgenheit geschenkt hat. Da können Sie vielleicht auch ein Lied von singen?  

Paulus und Silas singen ihr Lied um Mitternacht. Das ist von jeher eine Uhrzeit, die Unbehagen auslöst: Geisterstunde – hier walten Kräfte, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Und tatsächlich passiert Unheimliches: Ein heftiges Erdbeben lässt die Grundmauern des Gefängnisses erzittern, verschlossene Eisentüren stehen plötzlich sperrangelweit offen, Ketten bröckeln klirrend von Handgelenken – einfach so. Geisterstunde – oder Geistesstunde? Zwei, scheinbar von allen guten Geistern verlassen, singen Gottes Geist herbei, von dem es heißt, dass er Fesseln löst und Niedergedrückte aufrichtet. Ein Lied kann eine Brücke sein – eine Brücke in die Freiheit.  

Doch da ist auch noch der Kerkermeister – als alles um ihn herum wankt, schrickt er aus dem Schlaf hoch. Leute wie er sind als brutale, korrupte Typen berüchtigt. Gefangene sind oft völlig ihrer Willkür ausgeliefert. Als Gefängnisvorsteher haben sie persönlich dafür zu haften, dass ihre Häftlinge sicher verwahrt hinter Schloss und Riegel bleiben. Als der Kerkermeister nun sieht, dass alle Zellen offenstehen und von den Gefangenen jede Spur fehlt, kriegt er es mit der Angst zu tun. Verzweifelt will er sich in sein Schwert stürzen, doch Paulus verhindert gerade noch diesen Selbstmord: Tu dir nichts an, wir sind alle da! Der Kerkermeister bittet um ein Licht, das heißt, er sehnt sich danach, dass ihm ein Licht aufgeht. Er führt die Gefangenen raus aus dem dunklen Loch, in das er sie geworfen hat. Durch viele Gänge und Tunnel gelangen sie ins Freie, sie atmen die frische Nachtluft ein. Große Herren, was muss ich tun, um frei zu werden? fragt der Kerkermeister die zwei, die eben noch gefangen waren. Große Herren … Paulus korrigiert ihn sanft: Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und dein Haus. Wie so oft, wenn Gottes Geist im Spiel ist, werden die Maßstäbe der Welt auf den Kopf gestellt – die Macht der Herren der Welt wird begrenzt und die Macht des himmlischen Herrn wird entgrenzt, eine Ostergeschichte ist das: Lob erklingt im finsteren Kerker, Gesang lässt Mauern erbeben und ein Gefängniswärter bittet Gefangene um die Freiheit – ja, ein Lied wird zur Brücke für alle.  

Doch damit ist die Verwandlungsgeschichte nicht beendet – das Lied aus dem Kerker entfaltet noch einen ziemlich starken Nachhall. Denn der Kerkermeister kommt zum Glauben, wäscht Paulus und Silas ihre Wunden, lädt sie zu sich nach Hause ein und lässt sich und die Seinen taufen. Eine lebensverändernde Geschichte von Befreiung, Umkehr, Heilung… eine Geschichte, in der Hoffnung anklingt, dass auch unsere Welt nicht dieselbe bleiben muss. Dass Opfer ihre Stimme finden und sie die Fundamente von Unterdrückung und Gewalt zum Wanken bringen, dass Machthaber, die so viele eingekerkert haben, ihr Herz finden und sich und andere in die Freiheit führen lassen, dass unsere Kirche ein Ort sei, an dem Wunden verbunden werden und Gemeinschaft und Gastfreundschaft gelebt wird.  

Ein Lied kann eine Brücke sein 

zu Gott, zum Glauben. Das erfahren Paulus, Silas und der Kerkermeister, und vielleicht ist das auch Ihre Erfahrung? Ich kann da jedenfalls ein Lied von singen … denn Musik bringt in mir mehr zum Klingen als es Worte allein könnten. Es gibt Lieder, die sind mir Kraftquelle und Seelennahrung – selbst wenn ich auf dem letzten Loch pfeife und manche Sorgen mich gefangen halten, schenken sie mir Wärme und Weite: Die kurzen Gesänge aus Taizé zum Beispiel, fast alles von Paul Gerhardt oder die wunderbaren Hymns aus der Kirche von England. Sie haben bestimmt auch Ihre Lieder. Es lässt sich leichter glauben, wenn wir singen. In den Liedern kann unser Mund oft viel mehr als unser Herz schon kann. Gesang und Musik sind die Vorspiele des ewigen Lebens, sagt Augustinus.  

Ein Lied kann eine Brücke sein

Recht hat Joy Fleming gehabt. Und dass der gestrige Eurovision Songcontest 26 Nationen im friedlichen Wettstreit und in der Freude an der Musik verbunden hat, ist in diesen Zeiten ja auch ein wichtiges Zeichen. Den ESC hat schließlich der 24 jährige Countertenor Johannes Pietsch aus Österreich gewonnen – mit dem Song „Wasted Love“ (verschwendete Liebe), Kostprobe gefällig? „Ich bin ein Ozean der Liebe aber du hast Angst vor dem Wasser“.  

Können Sie da auch ein Lied von singen, liebe Gemeinde? Nein? Macht nichts. Aber von Bewahrung in schweren Zeiten und Hoffnung wider den Augenschein – ich bin sicher, davon können Sie ein Lied singen. Lassen Sie uns einstimmen in das Lob Gottes, dieses Geistesgeschenk, das schon tausende von Jahren in Kerkern, Kirchen und Herzen widerhallt. Der Chor macht uns vor, wie das geht…  

Halleluja. Amen.

Florian Kunz

Predigt gehalten am 18. Mai 2025, in der St. Nikolai Kirche. Eine Predigt nach der Apostelgeschichte 16, 23-34



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