01/11/2024 0 Kommentare
Verlorene Schafe
Verlorene Schafe
# Predigt des Superintendenten

Verlorene Schafe
Jesus sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Er hat es gefunden – das verlorene Schaf. Etwas zerzaust sieht es aus. Er nimmt es auf den Arm und untersucht es vorsichtig: Blätter und Gestrüpp haben sich in seiner Wolle verfangen, Dornen haben Schrammen an seinen Beinen hinterlassen. Doch es blökt wohlig, schmiegt sich an ihn. Der Hirte streicht ihm über den Kopf: „Hab‘ ich dich endlich gefunden“ sagt er sanft. Er legt sich das Schaf auf die Schultern und trägt es nach Hause. „Freude wird sein“ wenn er heimkommt, wenn er seine Nachbarn und Freunde zusammenruft: „Ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war!“ Ja, Freude wird sein. Auch bei der Herde? Die 99, die er zurückgelassen hat, als er das eine Schaf suchte. Wie werden sie den Weggelaufenen empfangen …?
Verlorene Schafe – wie gehen wir menschlichen Herdentiere mit ihnen um? Die, die aus der Reihe tanzen, ausbüchsen aus der umzäunten Weide, dem Bereich des moralisch Richtigen. Die, die auf Abwege geraten, sich verirren und dann wieder zurückkommen, den Anschluss suchen in der Gemeinschaft. Wie empfangen wir sie? Was für eine Fehlerkultur haben wir in unserer Gesellschaft - in Politik und Medien, im ganz Persönlichen? Der aus der Haft Entlassene, wird er Arbeit finden, eine neue Chance erhalten, oder werden Arbeitgeber in ihm immer nur den Ex-Knacki sehen? Der anerkannte Arzt, der den Angehörigen des Patienten und seinen Kollegen offenbart: „Ich habe einen Fehler gemacht. Mich geirrt. Die Symptome falsch eingeschätzt.“ Ist seine Karriere zu Ende? Der Politiker, der bei seiner Doktorarbeit geschummelt hat und zurücktritt, wird er je wieder die Chance auf ein politisches Amt bekommen?
Verlorene Schafe – wir Herdentiere reagieren unterschiedlich auf sie. Wer reinen Tisch macht, sein Fehlverhalten schnell und vollständig zugibt und bereut, hat eine Chance, von der Herde wieder aufgenommen zu werden. Die damalige hannoversche Bischöfin Margot Käßmann ist so ein Beispiel. Der schnelle Rücktritt von allen Ämtern nach ihrer Alkoholfahrt hat ihr viel Respekt eingetragen. Doch so läuft es nicht immer. Oft bleibt ein Makel: „Der, das ist doch der, der damals über diese Affäre gestolpert ist!“ Das kollektive Gedächtnis hat ziemlich viel Ausdauer. Und es gibt eine Lust, auf die, die am Boden liegen, auch noch zu treten. Skandale und Skandälchen werden gern medial zelebriert, Stück für Stück mehr Details hervorgezerrt und für die interessierte Öffentlichkeit grell ausgeleuchtet. Manchmal ist auch viel dummes Geblöke dabei, in das schließlich die ganze Herde einstimmt.
Verlorene Schafe – Gott mag sie. Er hat ein Faible für Sünder. Die, die in die Irre gehen, sich im Dickicht von Fehlern und Schuld verstricken. Ihnen geht er nach. Er ist ein leidenschaftlicher Sucher, schaut in jeden Winkel, hinter jeden Strauch. Und wenn er ein verlorenes Schaf gefunden hat, holt er es freudig in die Gemeinschaft der Herde zurück. Nicht, damit es dort nur geduldet wird, von den anderen netterweise ertragen trotz dessen, was es getan hat. Nein, Gott hat Pläne mit verlorenen Schafen, große Pläne: Mit Jakob, der sich den Erstgeburtssegen seines Bruders ergaunert und flieht - ihn macht er zum Vater und Namensträger des Gottesvolkes: Israel. Mit David, der den Ehemann seiner Geliebten Batseba im Krieg an die vorderste Front stellt und so umbringt – er wird zum Idealherrscher und guten Hirten Israels. Mit Petrus - im Neuen Testament ist er der Inbegriff eines verlorenen Schafs. Einer, der gern große Töne spuckt und dann doch nicht übers Wasser laufen kann. Einer, der zu Jesus sagt: „Ich werde dich nie verleugnen Herr!“ Denkste! „Und siehe es krähte der Hahn…“ Keine Referenzen, um sich als Superapostel zu bewerben. Doch Jesus nennt Petrus den Fels, auf den er seine Kirche bauen will. Und nach seiner Auferstehung vertraut er ihm seine Herde an: „Weide meine Schafe!“ beauftragt er ihn. Jesus, der sich selbst mit einem guten Hirten vergleicht, scheint immer irgendwie nach verlorenen Schafen Ausschau zu halten: Samariter, Aussätzige, verlorene Söhne, Ehebrecherinnen, ein Zöllner mit Namen Zachäus … irgendwann finden sie sich alle an einem Tisch mit ihm wieder, essen und trinken mit Jesus, eine Gemeinschaft, eine Herde.
Und dann ist da noch Paulus. Ein verlorenes Schaf auch er. Dabei sah er sich selbst als Vorzeigetier der Herde Israels. Ein ganz Frommer, ein Hundertprozentiger. Die Anhänger des Jesus von Nazareth hat er erbarmungslos verfolgt. Bis zu einer Begegnung, nach der nichts mehr ist wie zuvor. Ein grelles Licht, das ihn vom Pferd schmeißt. Eine Stimme, die ihn aus der Bahn wirft. Drei Tage ist er blind, verloren im Dunklen, in der Ungewissheit. Bis er gefunden wird. Von Hananias, von Gott gesandt. Der legt er ihm die Hände auf und alles wird klar, die Dunkelheit verschwindet, er kann wieder sehen. So wird aus dem Verfolger der Christen ein Nachfolger Jesu und schließlich der Erfinder der weltweiten Kirche
Vom Saulus zum Paulus. Vom Sünder zum Vorbild. Vom verlorenen Schaf zum Leithammel. So kann es gehen. Das macht die Barmherzigkeit Gottes. Der gute Hirte, der keinen verloren gibt.
Verlorene Schafe – ohne sie wäre die Bibel ein ziemlich dünnes Buch, nur wenige Seiten. Gott schreibt seine Geschichte mit ihnen, sie bilden die Herde, die Gottesvolk oder Kirche heißt.
Verlorene Schafe – das sind letztlich wir alle – jeder von uns - irgendwann.
Ja, manchmal gehen wir verloren. Verlieren uns in der Unübersichtlichkeit der Welt mit all‘ ihren Fragen – zerfleddern in der Routine des täglichen Einerlei, verirren uns in den Erwartungen, die andere an uns richten. Kommen uns selbst abhanden in Egoismus und Anpassung, in Lügen und lauten Worten, in Ängsten und kalten Gedanken. Und wir fragen erschrocken: „Bin das überhaupt noch ich?“ Doch einer ist auf der Suche. Gibt uns nicht verloren. Findet uns - sogar dort wo wir uns selbst nicht mehr erkennen. Holt uns aus tiefen Tälern, holt uns aus dem Dickicht der Schuld. Trägt uns auf seine Weide.
Hinter den Hügeln taucht das Dorf auf. Die Nachbarn sehen den Hirten schon kommen. Er hebt hoch, was er auf seine Schultern gelegt hat: „Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verlorenen war!“ Die Nachbarn beglückwünschen ihn, eine Frau klatscht in die Hände. Lachende Gesichter, es ist Freude. Auch bei der Herde? Die 99, die er zurückgelassen hat, als er das eine Schaf suchte. Wie werden sie den Weggelaufenen empfangen …? Der Hirte setzt das Schaf vorsichtig in ihrer Mitte ab. Ein wenig wacklig ist es noch auf seinen Beinen. Die anderen Schafe kommen näher. Einer nach dem anderen geben sie dem Wiedergefundenen einen leichten Stups mit dem Kopf. Unter Schafen heißt das: „Du gehörst dazu – willkommen.“ Und eines von den Mutterschafen säubert es von Blättern und Gestrüpp, rupft sie mit den Zähnen aus der Wolle. Ein zufriedenes Blöken legt sich auf die Herde. Der Hirte lächelt als er es hört.
Amen.
Florian Kunz
Predigt gehalten am 27. Oktober 2024, 18 Uhr in der Wichernkirche mit Insassen der JVA. Eine Predigt nach Matthäus 18,12-14: Verlorene Schafe
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