Geh aus mein Herz und suche Freud

Geh aus mein Herz und suche Freud

Geh aus mein Herz und suche Freud

# Predigt des Superintendenten

Geh aus mein Herz und suche Freud

Manchmal kriegt der Lieddichter Paul Gerhardt nichts zu Papier, kein Vers fließt ihm aus der Feder. Dann wenn die dunklen Schatten kommen, Erinnerungen in ihm aufsteigen: Der Verlust beider Eltern als er 13 war, der Abschied von seinen Schwestern als er ins Internat musste und dann die grauenhaften Bilder des Krieges, Geisterdörfer und Kindersoldaten, den Anblick der Verstümmelten, die in Wittenberg landeten und der Pesttoten, die an den Stadtrand gekarrt wurden.

Manchmal überfallen ihn diese Bilder – ohne Vorwarnung. Dann sitzt er reglos am Schreibpult in der kleinen Kammer, die er als Hauslehrer bei der Familie des Kammergerichtsrats Andreas Berthold in der Spandauer Straße 22 in Berlin-Mitte bewohnt. „Heut als die dunklen Schatten, mich ganz umgeben hatten …“ so seufzt er. Doch dann steckt eine den Kopf zur Tür herein, die ihm die Liebste ist von allen: Anna-Maria, die älteste Tochter der Bertholds. Heimlich verlobt sind die beiden, heimlich solange bis der Hilfsprediger Gerhardt seine erste richtige Pfarrstelle erhält. Anna-Maria legt ihren Arm auf seine Schulter. „Geh aus mein Herz“, sagt sie sanft. „Mach einen Spaziergang – das wird dich auf andere Gedanken bringen. Draußen scheint die Sonne, die Vögel singen und die Stadt lebt auf. Raus mit Dir, mein Herz!“ 

Geh aus, mein Herz, und suche Freud
in dieser lieben Sommerzeit
an deines Gottes Gaben;
schau an der schönen Gärten Zier
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben,
sich ausgeschmücket haben.

 „Schau an der schönen Gärten Zier“, oder „Jeh mal Jarten kieken“ wie der Berliner sagt. Dafür muss Paul Gerhardt nicht weit laufen, von der Spandauer Straße sind es nur ein paar Schritte. Manch Haus auf seinem Weg ist unbewohnt oder zerstört. Nachdem der Dreißigjährige Krieg große Teile Berlins verwüstet hat, ist nun Wiederaufbau angesagt. Der große Kurfürst hat verschiedene Architekten beauftragt die Stadt ganz neu zu entwerfen.

Zahlreiche Gärten sind entstanden. Wohl das schönste Zeichen für den Neuanfang! Aus vielen Lindenbäumen ist eine Prachtallee gepflanzt worden: „Unter den Linden“ heißt sie später. Und dann gibt es den Tiergarten, den „Grunen Wald“, der heutige Grunewald. Sonntags geht der Kurfürst hier Wild jagen, unter der Woche kann die Bevölkerung die Natur genießen.  

Die Bäume stehen voller Laub,
das Erdreich decket seinen Staub
mit einem grünen Kleide;
Narzissus und die Tulipan,
die ziehen sich viel schöner an
als Salomonis Seide,
als Salomonis Seide.
 

Paul Gerhardt ist nun in dem Garten angekommen, der wohl der prächtigste ist, den der Kurfürst hat entwerfen lassen: Es ist der neue Lustgarten. Aus dem verfallenen Schlossgarten ist ein kleines Paradies mit Gebäuden, Grotten, Springbrunnen und Marmorstatuen entstanden. Und hier blühen „Narzissus und die Tulipan“. Der junge Kurfürst liebt Tulpen, wie er überhaupt alles Holländische liebt, vor allem natürlich seine Gemahlin Louise-Henriette von Oranien.

Die Tulpe mag uns heute als billiger Gewächshaus-Blumenschmuck erscheinen, damals war sie ein exotischer Traum. Tulpenzwiebeln wurden wie Edelsteine gehandelt. In Europa brach die so genannte „Tulpomanie“ aus. Und Liebhaber dieser Blumen verschuldeten sich oft bis zum Bankrott. Vor allem Fürsten und Könige konnten sich diese Pflanzen leisten. Deshalb wird die Tulpe zum Symbol für Macht und Herrschaft.

Im Lied blüht ganz selbstbewusst neben ihr die Narzisse. Diese wiederum ist ein Sinnbild für den Künstler, den „narcissus poeticus“. Der Dichtergarten macht dem Fürstengarten Konkurrenz. In seiner zweiten Berliner Zeit geraten Tulpe Friedrich Wilhelm und Narzisse Paul dann auch mächtig aneinander. Im Berliner Kirchenstreit zwischen Lutheranern und Reformierten ist der Theologe so unnachgiebig, dass Friedrich Wilhelm ihn seines Pfarramtes enthebt. Seine Lieder schätzt der calvinistische Kurfürst aber trotzdem.  

Die Lerche schwingt sich in die Luft,
das Täublein fliegt aus seiner Kluft
und macht sich in die Wälder;
die hochbegabte Nachtigall
ergötzt und füllt mit ihrem Schall
Berg, Hügel, Tal und Felder,
Berg, Hügel, Tal und Felder.

Nachtigallen kann man im Berliner Sommer ja bekanntlich an jeder Ecke hören. Im Lied ist der variantenreich zwitschernde Vogel vielleicht eine Anspielung auf den Reformator Martin Luther, der Wittenbergische Nachtigall genannt wurde? Verteidigt hier der orthodoxe Lutheraner Gerhardt, die wahre wohlklingende Lehre? Oder meint der Liederdichter sich mit der hochbegabten Nachtigall gar selbst? „Nachtijall ick hör dir trapsen.“  

Die Glucke führt ihr Völklein aus,
der Storch baut und bewohnt sein Haus,
das Schwälblein speist die Jungen,
der schnelle Hirsch, das leichte Reh
ist froh und kommt aus seiner Höh ins tiefe Gras gesprungen,
ins tiefe Gras gesprungen.
 

Paul Gerhardt setzt seinen Spaziergang fort. In den unbefestigten Nebenstraßen Berlins geht es bäuerlich zu. Da läuft einem allerlei Federvieh vor die Füße. „Die Glucke führt ihr Völklein aus“. Der Dichter zitiert hier ein beliebtes biblisches Bild für Gott, der einem Vogel gleich die Seinen unter seinen Fittichen beschirmt. Die Henne und ihre Küken laufen uns auch noch in einem anderen Lied von Paul Gerhardt über den Weg …

Breit aus die Flügel beide,
o Jesu, meine Freude,
und nimm dein Küchlein ein.
Will Satan mich verschlingen,
so lass die Englein singen:
„Dies Kind soll unverletzet sein.“
(EG 477, 8: Nun ruhen alle Wälder)

Warum muss Jesus vor dem Zubettgehen noch Kuchen essen? Habe ich mich als Kind gefragt. Doch mit „Küchlein“ sind „Küklein“ gemeint und Jesus ist die Mutterglucke, die liebevoll ihre Flügel über sie ausbreitet. Jesus als Mutterglucke – hätten Sie das gedacht? Ein durchaus genderfluides Gottesbild lässt Paul Gerhardt hier anklingen …

Die Bächlein rauschen in dem Sand
und malen sich an ihrem Rand
mit schattenreichen Myrten;
die Wiesen liegen hart dabei
und klingen ganz vom Lustgeschrei
der Schaf und ihrer Hirten,
der Schaf und ihrer Hirten.
Die unverdrossne Bienenschar
fliegt hin und her, sucht hier und da
ihr edle Honigspeise;
des süßen Weinstocks starker Saft
bringt täglich neue Stärk und Kraft
in seinem schwachen Reise,
in seinem schwachen Reise.

Da stimmt was nicht bei diesem Spaziergang! Die Pflanzen und Tiere passen nämlich in keine Jahreszeit. Wenn die Schwälblein ihre Jungen speisen, sind die Tulpen längst verblüht. Myrten und Weinstöcke wachsen in „märkisch Sibirien“ gar nicht, dafür ist es in Brandenburg zu kalt. Und in Paul Gerhardts Gedichtgarten verblüht auch nichts, da liegt kein Laub herum. So perfekt ist nicht einmal der Garten des Sonnenkönigs.

Der Dichter baut seinen Garten nicht aus dem, was er erlebt, er zeichnet ein idealisiertes Bild von der Natur als Gottes Schöpfung. „Und Gott pflanzte einen Garten“, heißt es im ersten Buch der Bibel.  Eine Erinnerung an paradiesische Zustände, an den guten Anfang von allem, aber auch das gute Ende.

Der Weizen wächset mit Gewalt;
darüber jauchzet jung und alt
und rühmt die große Güte
des, der so überfließend labt
und mit so manchem Gut begabt
das menschliche Gemüte,
das menschliche Gemüte.

Nicht ohne Grund hält Maria Magdalena den Auferstandenen für den Gärtner. Ja, Ostern erzählt, dass neues Leben aufblüht, den Tod überwuchert, die Saat der neuen Schöpfung ist schon ausgestreut. „Jedes Gärtlein ist ein Abglanz dieses neuen Lebens in Gott“, denkt Paul Gerhardt als er die Gartenlauben in den Hinterhöfen betrachtet, wo die Bewohner Mohrrüben, Kohl und Getreide anbauen. Wie er so durch die Stadt lustwandelt und sieht wie die Natur pulsiert, Lärm und Lebensfreude die Straßen erfüllt, da sind die dunklen Schatten so gut vergessen, fast euphorisch ist ihm zu Mute, als wolle er einstimmen in dieses Konzert.

Ich selber kann und mag nicht ruhn,
des großen Gottes großes Tun
erweckt mir alle Sinnen;
ich singe mit, wenn alles singt,
und lasse, was dem Höchsten klingt,
aus meinem Herzen rinnen,
aus meinem Herzen rinnen.

„Ganz schön heiß ist es geworden“, stellt der Spaziergänger Paul Gerhardt fest. Angenehme Kühle umfängt ihn, als er in die Nikolaikirche tritt. Hier steht der Hilfsprediger manchen Sonntag auf der Kanzel. Er nimmt in einer der Bänke Platz und lässt den Blick im gotischen Gewölbe mit seinen bunten Bögen schweifen.

Ach, denk ich, bist du hier so schön
und lässt du’s uns so lieblich gehn
auf dieser armen Erden:
das will doch wohl nach dieser Welt
dort in dem reichen Himmelszelt
und güldnen Schlosse werden,
und güldnen Schlosse werden!
Welch hohe Lust, welch heller Schein
wird wohl in Christi Garten sein!
Wie muss es da wohl klingen,
da so viel tausend Seraphim
mit unverdrossnem Mund und Stimm
ihr Halleluja singen,
ihr Halleluja singen.

Am späten Nachmittag trifft Anna-Maria Berthold in der Spandauer Straße 22 auf einen gänzlich veränderten Paul Gerhardt. Aufgeräumt wirkt er und er pfeift eine Melodie vor sich hin. „Also mein Herz – wie war dein Spaziergang?“ „Trostreich und wundervoll“, antwortet der, „Nun hab ich wieder guten Mut und eine Idee noch dazu …“ Spricht‘s und setzt sich an sein Schreibpult, kratzt mit der Feder über das Papier, reiht eine Strophe an die nächste. Und so entsteht dieser besondere Spaziergang zwischen Berliner Gärten, Paradiesgarten und Himmelszelt. „Geh aus mein Herz“ – das ist auch ein Weg nach innen, durchaus mystisch zu verstehen. Das Ich loslassen und alles was belastet, die eigene Selbstverkrümmung fahren lassen und aus sich rausgehen, in die Schöpfung eintauchen, in Gottes Gnadensommer. In den letzten Strophen zeichnet sich Paul Gerhardt selbst in den Garten ein, wird zum guten Baum, zur schönen Blum …

Mach in mir deinem Geiste Raum,
dass ich dir werd ein guter Baum,
und lass mich Wurzel treiben.
Verleihe, dass zu deinem Ruhm
ich deines Gartens schöne Blum
und Pflanze möge bleiben,
und Pflanze möge bleiben.

„Du musst nämlich wissen …“, verrät er Anna-Maria. „Wir sind alle Gewächse in Gottes Garten: lebendig, pflegebedürftig und schön, mal heilend, mal giftig, mal samtig, mal stachelig. Der große Gärtner sorgt für uns, wir grünen und blühen auf Hoffnung hin.“

Anna-Maria betrachtet ihren Paul eine Weile, dann lächelt sie. Und weil sie Berlinerin ist, sagt sie: „Du bist mir echt ‚ne Pflanze!“

Erwähle mich zum Paradeis
und lass mich bis zur letzten Reis
an Leib und Seele grünen,
so will ich dir und deiner Ehr
allein und sonsten keinem mehr
hier und dort ewig dienen,
hier und dort ewig dienen.

Amen.

Florian Kunz

Predigt gehalten am 23. Juni 2024, im Gottesdienst zum 500. Gesangbuchgeburtstag in Sankt Nikolai, Spandau. Die einzelnen Strophen wurden von der Gemeinde gesungen.

Wer mag, höre sich das ganze Lied hier an:

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