Spuren jüdischen Lebens - Erinnerungsgang durch die Spandauer Altstadt

Der heutige Berliner Bezirk Spandau war bis 1920 eine selbständige Stadt mit einer eigenen Jüdischen Gemeinde und seit 1895 einer eigenen Synagoge. 1929 hatte die Jüdische Gemeinde zu Spandau 600 Mitglieder. Die Volkszählung von 1933 verzeichnete 725 Spandauer Bürger als Juden. In der Spandauer Altstadt, in der der Rundgang angesiedelt ist, befanden sich 1933 ca. 60 Geschäfte, Rechtsanwalts- und Arztpraxen mit jüdischen Eigentümern.

Der Rundgang

Ausgangspunkt ist das Mahnmal für die zerstörte Spandauer Synagoge und die Spandauer Opfer der Shoa am Lindenufer. Für den Rundgang - überwiegend durch die Fußgängerzone - benötigt man etwa 45 Minuten.

Vom Mahnmal aus startet der Rundgang an der gegenüberliegenden Kammerstraße. Durch die Kammerstraße am Relief für die Synagoge vorbei bis zur Breite Straße, dort nach rechts einbiegen.

An dem Eckhaus ist ein Gedenkrelief des Berliner Bildhauers Volkmar Haase (1930-2012) angebracht. An dieser Stelle befand sich die erste und einzige Spandauer Synagoge. Sie wurde in den Jahren 1894/95 unter der Leitung der damals sehr bekannten Architekten Cremer und Wolffenstein erbaut. Im September 1895 fand die feierliche Einweihung in Anwesenheit von Oberbürgermeister Koeltze statt. Spandau gehörte damals noch nicht zu Berlin. Die Synagoge war im romanisierenden Stil gebaut und hatte einen achteckigen Turm.

Der erste und letzte Spandauer Rabbiner Dr. Arthur Löwenstamm wurde in der Pogromnacht verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Unter der Bedingung, dass er Deutschland verlässt, wurde er freigelassen und floh mit seiner Frau nach England, wo er 1965 starb. In der Feldstraße Nr. 11, wo er lange Zeit wohnte, gibt es eine Gedenktafel. In der Pogromnacht 1938 wurde auch die Synagoge in Brand gesteckt und zerstört. Damit hörte die Spandauer Jüdische Gemeinde auf, zu existieren.

Der Weg führt weiter bis zur Breiten Straße. Wir biegen rechts ein und gehen bis zur Hausnummer 33/34. Hier steht noch heute das Wohnhaus von Louis Salomon, an den eine Gedenktafel erinnert.

Louis Salomon (1872-1955) war ein erfolgreicher Spandauer Kaufmann und der letzte Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Spandaus. Anfang der 1940er Jahre wurde sein großes Haus zum "Judenhaus", in das Juden zwangsweise einziehen und unter sehr beengten Verhältnissen zusammen leben mussten. Mindestens zehn Menschen hatten hier ihren letzten Wohnort vor ihrer Deportation. Außerdem verbrachten acht Menschen in diesem Haus die letzten Wochen vor ihrer Emigration. Louis Salomon selbst hat Theresienstadt zusammen mit seiner Frau überlebt.

Wir gehen die Breite Straße weiter bis zur Einmündung der Havelstraße (kurz vor dem zweiten Eingang zum U-Bahnhof Altstadt Spandau), biegen nach links in die Havelstraße ein und gehen bis zur Nr. 20 auf der linken Seite (Kinocenter). Hier liegen zwei Stolpersteine für Fanny und Heinrich Zeller.

Hier wohnten von 1935 bis 1939 Fanny (* 1891) und Heinrich Zeller (*1894) mit ihren beiden Kindern Fred (*1924) und Lillian (*1927). In ihrer Wohnung betrieben sie einen Stoffladen, nachdem sie wegen der ständigen Boykottmaßnahmen der Nazis das Ladengeschäft in der Breite Straße 18 aufgeben mussten. Hier erlebten sie auch die Novemberpogrome 1938.

Der Sohn Fred floh Ende 1938 als 14jähriger nach Holland, seine Schwester Lillian folgte ihm als 12jährige im Februar 1939. Beide wurden über Holland nach England gerettet und lebten später in den USA.

Heinrich Zeller floh über Belgien nach Frankreich, wurde dort interniert und von den Franzosen an die Nazis ausgeliefert. Im März 1943 wurde er von Drancy bei Paris ins besetzte Polen deportiert. Wo genau er dort ermordet wurde, wissen wir nicht. Vielleicht in Majdanek, vielleicht in Auschwitz.

Fanny Zeller wurde bereits im November 1941 mit einem der ersten Transporte aus Berlin ins Ghetto nach Minsk deportiert und dort ermordet.

Die Stolpersteine waren die ersten in der Spandauer Altstadt und wurden 2008 aus Anlass des 70. Jahrestages der Novemberpogrome verlegt. Zu diesem Jahrestag stand die Erinnerung an das Schicksal der Familie Zeller in Spandau im Mittelpunkt des Gedenkens.

Wir gehen nun den Weg zurück in die Breite Straße und biegen rechts in die Breite Straße ein, gehen die Breite Straße entlang bis zur Charlottenstraße. Dort überqueren wir die Charlottenstraße an der Ampel und gehen auf der linken Straßenseite bis zum Haus Breite Straße 10. Hier liegt seit dem 19. Juli 2012 ein Stolperstein für Gustav Simonsohn.

Gustav Simonsohn wurde am 19. Juli 1894 in Spandau geboren. Er wuchs in einer großen Spandauer jüdischen Familie auf. Im ersten Weltkrieg war er viereinhalb Jahre Soldat an der Front und erhielt das Eiserne Kreuz II. Klasse. Im Jahre 1919 eröffnete er hier - in der Breite Straße 10 - ein Farbengeschäft Foto 3 A und heiratete 1922 die Christin Elsa Tausche. 1925 kam ihr Sohn Gerhard zur Welt. Zur Spandauer Jüdischen Gemeinde hatte er keine Beziehung. Sein Sohn wurde christlich getauft.

Im Jahre 1932 musste er wegen der Wirtschaftslage sein Geschäft schließen. Die Familie zog um die Ecke in die Mauerstraße 15. Gustav Simonsohn arbeitete nun u.a. als Lastwagenfahrer, bis ihm Ende 1938 - wie allen Juden - von den Nazis der Führerschein entzogen wurde. Nach einer Anstellung bei einem Markthändler, arbeitete er als Bauarbeiter. Ab Dezember 1940 musste er Zwangsarbeit leisten - zuletzt bei Gleisbauarbeiten in der Nähe des heutigen Bahnhofs Nöldnerplatz. Hier wurde er am 1. April 1941 nach einer Auseinandersetzung um einen Urlaubsantrag verhaftet und ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht. Von dort wurde Gustav Simonsohn in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo er am 12. September 1941 zu Tode kam.

Wir gehen nun wieder zurück. Wenn wir an der Ampel die Charlottenstraße erneut überquert haben, stehen wir vor vier Stolpersteinen für die Familie Lieber.

Hier in der Breite Straße 15 - das Haus steht nicht mehr - wohnte Julius Lieber. Er wurde 1875 in Landeck in Westpreußen (heute Polen) geboren. 1906 heiratete er Lina Haase, geboren 1880 in Kolmar/Posen. Das Ehepaar hatte drei Kinder: Frieda (*1907), Gerhard (*1911) und Heinz Martin (*1915). Julius Lieber betrieb bis 1936 ein gut gehendes Textilwarengeschäft in der Spandauer Altstadt. Die politischen Verhältnisse zwangen ihn, das Geschäft aufzugeben. Er versuchte, seine Waren auf dem Markt zu verkaufen, bis ihm 1938 alles zerstört wurde und er Zwangsarbeit in einer Spandauer Rüstungsfirma leisten musste. Seit Oktober 1942 bewohnte auch sein Sohn Gerhard mit seiner Frau Gertrud ein Zimmer der elterlichen Wohnung, möglicherweise von den Nazis zwangseingewiesen.

Julius und Lina Lieber wurden im März 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und ein Jahr später nach Auschwitz gebracht und ermordet.

Ihr Sohn Gerhard wurde 1911 in Kolmar/Posen geboren. Er war verheiratet mit Gertrud Pelzmann - geboren 1907 in Berlin-Schöneberg. Gerhard und Gertrud Lieber wurden ebenfalls im März 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Gerhards Schwester Frieda, die in einer sog. Mischehe lebte, überlebte die Shoa. Der Bruder Heinz Martin konnte rechtzeitig emigrieren und lebte nach dem Krieg in Marokko.

Wir bleiben auf der rechten Seite der Breite Straße und gehen bis zur Breite Straße 21. Hier - im Eingang der Sparkasse - befindet sich eine Berliner Gedenktafel für Julius Sternberg.

Julius Sternberg (1879-1971) war von 1922 bis 1935 Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Spandaus und der letzte Eigentümer des großen Spandauer Kaufhauses M.K. Sternberg. Er wurde mit seiner Familie von den Nazis seiner wirtschaftlichen Existenz beraubt und floh 1939 nach Kolumbien. Nach dem Krieg kehrte er nach Spandau zurück.

Dann über den Markt nach rechts zur Ecke Mönchstraße. Hier liegen zwei Stolpersteine für Paula und Theodor Hirschfeld (2).

Hier wohnte die Witwe Paula Hirschfeld mit ihrem Sohn Dr. Theodor Hirschfeld. Das Haus, das heute nicht mehr steht, gehörte ihnen. Paula Hirschfeld ist 1871 in Posen geboren. Verheiratet war sie mit Sanitätsrat Dr. Hermann Hirschfeld. Der Sohn Theodor kam 1894 in Spandau zur Welt. Theodor studierte an der Humboldt-Universität Medizin, musste das Studium aber im 1. Weltkrieg unterbrechen und diente im Krieg als Sanitätsfeldwebel. Er wurde mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Nach dem Krieg setzte er sein Studium fort und schloss es mit der Promotion ab. Er hatte in diesem Haus seine Praxis als Allgemeinmediziner und seit 1926 als Facharzt für Inneres. Seit 1931 war er außerdem als Vertrauensarzt der AOK tätig. Er war verlobt mit der Nichtjüdin Erika G., die er aber wegen der Nürnberger Rassegesetze nicht heiraten durfte.

1938 wurde ihm - wie allen Ärzten jüdischer Herkunft - die Zulassung entzogen und er musste Zwangsarbeit als Flugzeugwäscher auf dem Flughafen Tempelhof leisten. Sein Vater starb Ende 1939 und wurde auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee beigesetzt. Im September 1942 wurde Paula Hirschfeld nach Theresienstadt deportiert und kam dort am 30. Juli 1943 ums Leben. Ihr Sohn - inzwischen schwer herzkrank - wurde 12 Tage nach seiner Mutter nach Raasiku in Lettland deportiert und sofort nach der Ankunft ermordet. Erika G. stellte in den 50er Jahren den Antrag, ihre Ehe mit Theodor Hirschfeld nachträglich zu legalisieren, was auch mit Wirkung vom 1.4.1939 geschah. Sie konnte nun Witwenrente beziehen.

Dann weiter über den Markt bis zur Adlerapotheke (Carl-Schurz-Straße/Ecke Moritzstraße) Vor der Adler-Apotheke liegen zwei Stolpersteine für das Ehepaar Siegmann.

Hier lebte und arbeitete das jüdische Ehepaar Julius und Jadwiga Siegmann. Das ursprüngliche Haus wurde im 2. Weltkrieg zerstört. Das Haus und die Adler-Apotheke gehörten seit 1910 dem Apotheker Julius Siegmann. Er wurde 1873 in Berlin geboren und heiratete 1913 Jadwiga Cukier (*1880 in Russland). Sie hat in Leipzig Musik studiert. 1920 wurde ihre Tochter Olga geboren.

Als Besitzer der größten Apotheke Spandaus waren sie geachtete Bürger und führten ein gut bürgerliches Leben. Seit 1932 bewohnten sie eine 7-Zimmer-Wohnung direkt über der Apotheke. Sie besaßen zwei Wochenendgrundstücke im Spandauer Umland und ein Motorboot. Frau Siegmann war eine passionierte Musikerin. Mit einer Freundin musizierte sie oft gemeinsam in ihrer Wohnung. Der Jüdischen Gemeinde Spandaus fühlte sich die Familie verbunden. Am 1. April 1933 war die Apotheke neben anderen jüdischen Geschäften, Rechtsanwalts- und Arztpraxen Ziel des SA-Boykotts.

Durch die "Achte Verordnung zum Reichsbürgergesetz" wurde Julius Siegmann wie allen anderen Apothekern jüdischer Herkunft 1939 die Approbation entzogen. Er musste nach fast 30 Jahren die Adler-Apotheke an einen "Arier" verkaufen. Die Tochter Olga wanderte 1939 nach England aus. Die geplante Flucht ihrer Eltern ließ sich nicht mehr realisieren. Am 14. Januar 1943 wurden beide ins Ghetto nach Theresienstadt deportiert. Von dort wurden sie eineinhalb Jahre später nach Auschwitz gebracht und wahrscheinlich sofort nach ihrer Ankunft am 30. Oktober 1944 ermordet.

Hier endet der Gedenkgang.

Wenn Sie zurück zum Mahnmal wollen, dann gehen Sie über den Markt zurück, biegen in die Wasserstraße ein und gehen die Wasserstraße runter bis zum Lindenufer. Zur U-Bahnstation "Altstadt Spandau" gehen Sie die Carl-Schurz-Straße entlang Richtung Nikolai-Kirche. Am Ende der Carl-Schurz-Straße befindet sich ein weiterer U-Bahn-Eingang (U7 Richtung Rudow oder Rathaus Spandau).